Provisorische Existenz
Die „provisorische Existenz“, von der Victor Frankl im Blick auf seine Zeit sprach, verschiebt die Klärung der Lebensfragen auf „später“. Diese innere Haltung schützt sich unter anderem dadurch, dass ihr Philosophie entweder zu kompliziert vorkommt – oder als nutzlose Kunst.
Wir können aber nicht Nicht-philosophisch leben. Jede Haltung, auch die provisorische, verwirklicht eine Philosophie, die auch dadurch nicht weniger zu verantworten ist, als dass sie selbst als vorläufig oder pragmatisch zu entlasten sucht.
Der Andere als Alltagserscheinung
In der stillen Hoffnung auf Leser, die mit mir eine philosophische Betrachtung anstellen, die, wie ich meine, wesentlich ist, möchte ich hier kurz „den Anderen“ betrachten.
Das erste Gefühl des Daseins ist – wie Heidegger beschreibt – unter anderem das Gefühl des besorgt seins. Irgendwie muss ich mit dem Leben, das ich ja nun mal habe, klarkommen. Zwischen Existenzsicherung und Lebensgenuss geht es hin und her – je nachdem, ob ersteres schon gut gesichert ist. Dabei erscheint der andere wie ein Bestandteil dieses Alltagslebens. Allermeist finde ich ihn in meiner Umwelt vor. Er ist da, sei er aus meiner Vergangenheit kommend (Familie, Freunde) oder als mir vor die Nase gestellter in Beruf oder an der Kasse des Supermarktes.
Neben der Nützlichkeit (oder der Bedrohlichkeit) des anderen vor meiner Nase, kann sich zuweilen auch ein Gefühl bemerkbar machen, dass neuerdings mit Empathie bezeichnet wird. Früher sprach man von Mitgefühl, teils Mitleid oder, genauer, von Einfühlung.
Das kann mein Leben bereichern – oder mir auch zu viel werden und dann stellt es sich als eine Last dar.
Ein Gedankenexperiment – Wie wäre es ohne „Andere“?
Nun stellen Sie sich einen Moment in einem Gedankenexperiment vor, es gäbe für einen Augenblick, der kürzer oder länger ist, niemanden auf der Welt außer Ihnen. Sie würden sich auch an niemanden mehr erinnern und keine Person kennen.
Ganz schön öde, meine ich.
Wenn Sie es noch einen Moment innehalten: Es ist mehr als öde. Nach einer Zeit, die vielleicht als Pause (aber Pause wovon?) noch entspannend sein könnte, kann sich ein Bewusstsein von Existenzlosigkeit verbreiten. Ohne jemals gehabte Ansprache gäbe es auch in mir selbst keine Sprache – also auch kein Dialog mit mir selbst. Es gäbe niemand, der mir sagt, dass ich da bin, der mich nett, oder nicht nett findet. In aller Konsequenz eine schreckliche Einsamkeit, ja eine Art Nicht-Sein.
Jetzt beenden wir endlich dieses Gedankenexperiment und sind wieder unter Menschen. Ich hoffe, Sie empfinden mit mir, dass ich den anderen mehr brauche als nur irgendwie. Den ersten Menschen, den ich nach solch einer Erfahrung antreffe, werde ich staunend und beglückt anschauen, vielleicht wagen, ihn anzusprechen und glücklich bemerken, dass er mich bemerkt.
Mehr als nur vorhanden sein
Heidegger spricht vom Dasein als von einem geworfen sein. Und zwar einem in die Welt geworfen sein. Die Welt ist das, woran ich erkenne, dass ich da bin (nämlich da in der Welt, an einem Ort und in diesem Moment). Welt ist also nichts Optionales, das man haben könnte oder auch nicht.
Und in dieser Welt sind Dingen – und Menschen – sozusagen in der Nähe meiner Hand, also vorhanden. Damit stehen sie mir auch zur Hand, zur Verfügung. Aber ist das alles?
Person sein ist mit dem in der Welt sein nicht ausreichend genau beschrieben. Person werde ich am anderen, am Gegenüber (siehe mein Blogbeitrag über Kommunikation). So ist mir der andere nicht einfach nur der, der vor-mir-ist (vorhanden). Der andere ist das (der) wesentliche an meinem Menschsein. Er ist eben auch nicht optional – wie das Gedankenexperiment vielleicht eine wenig veranschaulicht hat.
In der Alltäglichkeit und Selbstverständlichkeit des Da-Seins des anderen gerät dies schnell in Vergessenheit (oder gar nicht erst in Bewusstsein).
Personenstiftung
Worauf es mir in dieser Betrachtung nun speziell ankommt, ist die Unvermeidbarkeit des Personstiftenden (meiner Person) durch den anderen zu jeder Zeit. Alle Begegnung, aller Umgang mit dem anderen ist ein Umgang mit mir selbst!
Die Begegnung ist ja das, was mich zu einer Person macht. Ich finde mich in einer Situation mit anderen vor – und inwieweit ich diese annehme (den anderen annehme) hat unmittelbar mit meinem eigenen Person-sein zu tun. Und ebenso ein Abweisen – ich weise ein werden wollen (sollen?) meiner selbst ab.
Genauso wie ich nach Wazlawik nicht Nichtkommunizieren kann, kann ich in einer Begegnung nicht die Begegnung vermeiden. Selbst die Vermeidung der Begegnung durch Ort oder Zeit ist eine wirksame Handlung an mir selbst.
Selbstmord aus Angst vor dem Leben
Es gibt diesen Satz „Selbstmord aus Angst vor dem Tod“. Er beschreibt genau diese Angst vor dem existenziellen Leben. Die Angst, die so groß werden kann, dass sie meint, sich nur mit Mitteln schützen zu können, die letztlich in eine Rekursion führen, zu einem doch tun in dem nicht tun wollen – aber in einer nicht gemeinten Weise.
Eine sich ereignende Begegnung bietet nicht die Möglichkeit einer „provisorischen“ Handlung, die sozusagen neutral wäre. Die gefühlte Neutralität ist eine Neutralität „des Kopf in den Sand Steckens“, eine Neutralität der Abstumpfung und Lebensvermeidung. Sie vermeidet aber nichts, weil sie ihrerseits eine Entscheidung, eine Stellungnahme, ist. Eine Stellungnahme zum anderen, die damit eine Stellungnahme zu mir ist. Eine Stellungnahme der „Nichtung“, vielleicht nicht der Vernichtung, aber doch der aktiven Passivität – nahe dran und im Wesen mittendrin im Selbstmord aus Angst – vor dem Leben.
Praktischer Auslöser
Dieser Text hat einen Auslöser. Es geht um eine phänomenologische Betrachtung der Flüchtlingsereignisse im Herbst 2015. Wie diese Gedanken darauf anwendbar sind, möchte ich erst einmal dem Leser überlassen. Vielleicht schreibe ich etwas dazu, wenn es gewünscht wird.
Es geht mir nicht darum eine Position zu beziehen. Es geht mir um die Unvermeidlichkeit des existenziellen des Anderen – um seinetwillen ebenso wie um meinetwillen.
Der größte Fehler, den man machen kann, wird nur noch überboten von dem Fehler, aus Angst vor diesem größten Fehler zu meinen, nichts zu machen wäre eine fehlerneutrale Option.
Dieser Text wurde bereits 2015 geschrieben aber nur Freunden zugänglich gemacht.