Teil III – Hört da jemand?

Ich sitze in einer Gruppe. Wir sprechen ernst über Probleme, die es in dieser Gruppe gibt. Unterschiedliche Erwartungen, unterschiedliche Bedürfnisse, Befindlichkeiten. Seit Jahrzehnten treffen wir uns, wir kennen einander, wir schätzen jeden Einzelnen. Und doch:

Nach 30 Minuten ist die Stimmung ziemlich im Keller. Ich fühle mich nicht verstanden, nicht gehört, nicht so akzeptiert wie ich bin – einem anderen geht es ebenso. Viele aus der Gruppe drücken uns ihr Unverständnis aus, es werden immer wieder neue Ansätze gemacht, dass „Du (gemeint bin ich) doch endlich mal verstehst“. Ich spüre meinen starken Wunsch mit meinem Anliegen durchzudringen – ohne Erfolg.

Da fällt mir mein Blog ein.

Ich erinnere mich: Es geht nicht nur darum, dem anderen zuzuhören. Es geht darum, dem anderen zu erlauben mich zu verändern. Oh – mich? Wo ich doch recht habe? Wo doch mein Anliegen so wertvoll und nötig ist? Wo ich doch die anderen zu verstehen meine, dasselbe aber nicht von ihnen vermute?

Was jetzt?

Zuerst gilt es, die Frage eins zu klären: Was ist mein eigentliches Anliegen?

Ich verhalte mich wie einer, der mit seiner Botschaft durchdringen will. Meine Gedanken kreisen genau darum. Ist das mein Anliegen? – Naja, es würde mich schon sehr kränken dieses mein Bemühen um eine Verbesserung als „Fehler“ wahrzunehmen. Gerade nachdem ich mich damit so aus dem Fenster gelehnt habe. Wo ich doch so Recht habe. Ein Fehler?

Es geht mir offenbar auch um mich selbst, in meinem Eigenen, in meinem Selbstwertgefühl. Das Eigene nun zu lassen – das würde mich verletzbar und gefährdet machen. Es stände im Raum „das haben wir dir doch gleich gesagt“. Ich spüre wie ich das Gefühl bekomme, auf diese Weise sogar in eine bestimmte Rolle zu kommen. Die Rolle dessen, der die Dinge falsch sieht – „hat man ja erlebt“. Kann ich das ertragen?

Kann ich loslassen mich um mich selbst zu sorgen? Werde ich gehalten wenn ich mich nicht selbst halte? Gibt es eine Wirksamkeit die wirkt, hält und rettet, wenn ich das Zepter aus der Hand lege?

Die Antwort auf Frage eins hatte ich hier, in diesem Blog unter dem Aspekt „Selbstwerdung“ genannt. Michel wurde Michel weil er von anderen als Michel angesprochen wurde. Lebendig sein, wachsen und der werden, der ich sein soll, geschieht durch Begegnung, die mich verändert. Zulassen, dass etwas weggenommen wird, damit Raum für neues ist. Und dieses Neue ist das Wesen des Mensch seins, des Person seins. Also des Wertvollsten überhaupt. Ja, ich halte daran fest.

Was ist eigentlich das Anliegen hinter dem formulierten Anliegen der Gruppe? Vielleicht: Sieh uns an, sieh mich an. Deine Interventionen überfordern mich/uns, lassen mir nicht den Freiraum die Dinge selbst zu entdecken. Sie geben mir das Gefühl nicht richtig zu sein. Ich habe das noch nie gedacht, wovon du sprichst – soll ich es denn so von Dir nehmen. Wo bleibe ich?

Ja, möglicherweise spüren sie, was ich spüre. Die Sorge um das Selbst. Die Angst sich dem anderen auszuliefern, die Kontrolle zu verlieren.

Ich spüre jetzt, dass ich nicht auf die Tür warte, die nur angelehnt ist und zum Eintritt auffordert, sondern an eine Tür klopfe die aktuell geschlossen ist. Ich suche nicht nach dem aktuellen, scheinbar sehr kleinen im Anliegen des Anderen, sondern weise ihn auf das dahinter liegende hin – das will er aber gar nicht hören.

Wie sollte ich erwarten, dass der andere tut, was ich nicht tue – die Kontrolle los zu lassen, zu Vertrauen ohne eigene Sicherheit.

Vielleicht spiegelt mein Kampf um das Vertrauen der anderen sogar meinen Kampf mit mir selbst um eben dieses Vertrauen. Eine Art Stellvertreterkrieg? Aber: Allein über mich bin ich Herr. Nur was ich an mir ändere ändert etwas.

Der Spatz in der Hand (mich um meinen Wert selbst kümmern) ist besser als die Taube auf dem Dach (den Selbstwert im Vertrauen auf etwas außerhalb von mir empfangen). Ist das so? Ist nicht vielmehr der Spatz nur die Wegzehrung auf dem Weg zur Taube? Oder sogar: Ist nicht dieser Spatz der eigentliche Hinderungsgrund für lebendiges Leben?

Dazu später mehr.

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6 Antworten zu Teil III – Hört da jemand?

  1. Andrea Tinla sagt:

    Ein großes Thema. Ich würde gern etwas zum Spatz und zur Taube sagen, vielleicht auch fragen.
    „Lieber den Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dach“ was genau soll der Spatz bedeuten und was bedeutet in diesem Zusammenhang die Taube? Wenn ich das Andere (Taube) nicht kriegen kann, habe ich wenigstens das Eine (Spatz) in der Hand? Wenn das so ist, dann frage ich mich ob der Spatz – so er den Grundwert darstellen soll (meinen Wert vor jeder Leistung – „Es ist gut das ich da bin“) nicht eine wesentliche Voraussetzung ist, dass ich überhaupt die Taube bekomme und vor allem „halten“ kann. Insofern sehe ich es so, dass es den Spatzen unbedingt braucht – denn sollte ich die Taube bekommen, kann ich mich nur ihrer erfreuen, wenn ich sie problemlos auch wieder flattern lassen kann ohne den Spatz zu verlieren. An dieser Stelle merke ich gerade, dass der Spatz als Symbol für den Grundwert nicht taugt – er ist lebendig und will fliegen, genau wie die Taube. Der Grundwert sollte für mich etwas sein, was jeder Mensch fest in sich trägt/tragen sollte (Das Haus mit Keller und Tauben/Spatzen auf dem Dach). Nur wie kommt man dort hin? Es braucht EINEN Menschen, der mir irgendwann das Gefühl vermitteln konnte: „Schön das du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst“. Wenn wir das in uns tragen, dann möchten wir weder den Spatz in der Hand, noch die Taube auf dem Dach haben – bzw. können wir Lebendiges leben und fliegen lassen.
    In diesem Sinne „Alle Tauben und Spatzen fliegen HOOOOOCH!!“
    Alle Liebe
    Andrea

  2. Andreas Braun sagt:

    Liebe Andrea,
    der erste Kommentar – vielen Dank!

    Ich meine mit dem Spatz das, was wir Coping nennen. Also das, was mir den Schmerz erträglich macht. Ich denke schon, dass es Zeiten gibt in denen der Spatz das einzige ist was ich halten kann. Vielleicht weil andere Dinge noch davor zu lösen sind, weil die Sorge sich los zu lassen (noch) nicht erträglich ist.
    Andererseits ist der Spatz eine Illusion. Der mit sich selbst verhandelnde sagt sich diese Geschichte – um sich zu trösten. Dabei verliert er jedoch die Gelegenheit dieses Momentes. Und ja, die ganze Geschichte ist eine Illusion, ein nicht gelebter Augenblick.
    Du spürst, dass das Thema „Grundwert“, also die Frage was gibt mir den Mut mich los zulassen, hier nicht beantwortet ist – vielmehr ist die Frage erst aufgeworfen.
    Und einer einfache Antwort, z.B. die, einfach einen Grundwert proklamieren, werde nicht folgen. Leicht wird es nicht – ich hoffe auf Dein Mitdenken, Anmerken und Fragen.
    Herzlicher Gruß
    Andreas

    • Andrea Tinla sagt:

      Lieber Andreas,
      den ersten Teil habe ich jetzt verstanden.
      Was ich nicht ganz verstehe: Warum willst du DICH loslassen und was meinst du mit „Grundwert proklmieren“?

      Andrea

  3. Karin Kunde sagt:

    Lieber Andreas,
    nun habe ich Deine Artikel schon mehrere Tage lang immer wieder gelesen und glaube, vieles auch verstanden zu haben. Aber das Verstehen ist es ja nicht allein was mir ermöglicht, dem anderen wirklich zu begegnen.
    In einer, sagen wir mal „therapeutischen“ Sitzung wie Sterbebegleitung, scheint es mir am ehesten möglich den von Dir beschriebenen Raum zu geben, Stille zu ertragen, hinter die Maske zu sehen.
    Aber in einer lebendigen Atmosphäre wie Gespräche mit Freunden, Studenten oder in der Familie wo man sich kennt, Gefühle zulässt, man selbst sein möchte, da kann es sein, dass ich schon verletzt bin bevor mein Kopf überhaupt verstanden hat, worum es geht.
    In solch einer Situation fühle ich mich ausgeliefert und mag mich dann auch gar nicht um den „Anderen“ kümmern. Schließlich muss ich mich doch schützen vor meiner Verletzlichkeit.
    Anders formuliert: wie ist ein Gespräch mit Spontanität und Schnelligkeit ( denke an meine Tochter von der ich Dir erzählte) überhaupt möglich, ohne sich selbst immer herauszuziehen und das Ganze „therapeutisch“ anzugehen?
    Sei herzlichst gegrüßt von
    Karin

  4. Andreas Braun sagt:

    Liebe Karin,
    Deine Frage am Schluss braucht eine tiefer gehende Betrachtung. Das will ich in weiteren Beiträgen aufgreifen. Nur jetzt, als erster Gedanke: Ja, ein Gespräch kommt aus dem Herzen, nicht aus dem Verstand. Und so soll es sein.
    Wenn ich nun ein Gespräch im Nachhinein betrachte, kann ich aus dem Verlauf und meiner eigenen Stimmung dazu, entnehmen, ob es so war wie ich im Grunde möchte – oder eben nicht. Auch aus einem misslungenen Gespräch halte ich z. B. den Hinweis, das es misslungen ist, für wichtig – es zeigt mir etwas von meinem Herzen. Zum Beispiel eine große Sorge um mich selbst, um meine empfindlichen, verletzlichen Seiten. Und zwar nicht nur allgemein, sondern in Bezug auf dass was geschehen ist.
    Die Alternative lautet also nicht nur, spontan sein oder „therapeutisch“. Es ist mehr darin – es kann mehr darin sein.
    Ich werde diesen Punkt aufgreifen.
    Herzlicher Gruß und Dank für Deine Rückmeldung
    Andreas

  5. Christoph Patzwaldt sagt:

    Den Gedanken der Selbstwerdung habe ich noch nicht verinnerlicht. Wenn Michel zu Michel wird, weil er als dieser angesprochen wurde, was passiert mit ihm wenn er nicht als solcher angesprochen wird? Die meisten „Gespräche“ mit Kollegen und häufig auch mit näherstehenden Personen, ist nach meinem empfinden mehr ein unpersönlicher Informationsaustausch. Kann es sein, dass ein Mensch nicht angesprochen wird?

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